Literaturinstitut @ International Performance Art Giswil

Marshall Maihofer und Elias Kirsche, beide Studenten im dritten Jahr des Bachelors, waren im Rahmen eines Kurses der Modul­gruppe 4 (Trans­dis­zi­pli­narität und Projekte) eingeladen, für das Festival International Performance Art Giswil ein Gesprächs­format, eine Ausstellung von Sprech­an­sätzen zusammen mit den Perfor­me­rInnen aus der Schweiz und Norwegen anzuzetteln. Begleitet wurden sie dabei von der Dozentin Birgit Kempker. Geschrieben haben sie während der beiden Festi­valtage diese Texte:

Texte von Marshall Maihofer

Samstags in Giswil, gefühlte 36 Grad aussen, gefühlte 12 Grad in der Turbinenhalle, gefühlte 15 Performances über den Tag verteilt.

1. 
Ein Mann steht mit einer Sense in der Hand auf einem Feld. Ein Feld mit Gras. Der Mann schneidet Gras mit einer Sense auf dem Feld. Eineinhalb Stunden lang. Es gibt nichtviel Schatten und ich schwitze. Der Mann wird wohl auch schwitzen. Sein Schweiss tropft auf die Gräser, die von ihm abgeschnitten werden und sich vom Wind über die Wiese tragen lassen. Vielleicht ist das die Absicht seiner Performance: Seinen Schweiss, von Gräsern getragen, über die Wiese wehen lassen. Ich stelle mir vor, ich rieche seinen Schweiss bis hier. Der Mann mit der Sense, der Gras schneidet, der trägt auch noch schwarz. Es sieht aus, als würde er ein Schweizerkreuz in die Wiese einschneiden. Es wäre angenehm, es gäbe mehr Schatten. Von Ästen geworfener Schatten nähert sich dem Schweizerkreuz, kitzelt mit Dunkelheit an der ersten Ecke. Ob der Schatten beabsichtigt ist? Der Sensenmann, der Gras in die Form eines Schweizerkreuzes schneidet, trägt nur schwarz, wie ich. Der Sensenmann und ich sind ähnlich gekleidet, nur trägt er einen hellen Strohhut. Ob er bald fertig ist?

2. 
Jetzt läuft ein aggressiv dreinschauendes, weibliches Familienoberhaupt über die Fliessen und zieht mit lautem Scheppern Metallstangen über den Boden. Sie spricht von ihren Füssen und dem Untergrund, sagt, da unten sei ganz viel Wasser, ihre Füsse, der Untergrund, das Wasser, ein Werk, irgendwie da unten. Und hinter ihr, auf dem Berg, an dessen Fuss wir stehen, sei auch viel Wasser. Und so weiter. Ihre Stimme hallt unangenehm laut, aber imposant durch den Raum. Jetzt trötet sie in eine dieser Röhren hinein. Es klingt nach einer Mischung aus Walgesang und Furzen. Klingt, als würde sie im Rohr sich ihrer Spucke entledigen. Ihr Kopf wird langsam rot. Jetzt spricht sie wieder von Druck und Turbinen und Wasser. Ich habe das Gefühl, dass ändert sich heute nicht mehr. Viele Zuschauer haben die Augen geschlossen oder schauen interessiert zu. Ich frage mich halt so: Was denken die sich? Was gibt ihnen all das Wasser und Untergrund und Röhren. Die Performerin stellt sich jetzt ans lange Ende der Halle und singt, stösst hohe, klare Töne aus, die sich an die Decke des Raumes drücken lassen und dessen volle Länge mit grellen Lauten erfüllen. Ein kräftiges Organ hat sie, das muss man ihr lassen. Sie öffnet die grossen Flügeltüren und schreit den Bergen entgegen. Jetzt klettert sie aus dem Fenster und bricht sich hoffentlich nicht den Hals. Sie schreit, die Kurve müsse gerade sein und das Elektron solle ins Tal und die Innerschweiz erreichen. Das Elektron schiesst durch die Rohre und die Leute klatschen sehr lange.

3. 
Eine Frau mit Kühlschrank und vielen Decken. Erst legt sie sich auf den Boden zum Schlafen, dann steht sie auf, öffnet den Kühlschrank und der gesamte Inhalt fällt ihr vor die Füsse. Sie trägt eine grosse Leiter mit sich herum und stellt diese irgendwo in den Raum. Mir erscheinen die Performer als ein Haufen Menschen, die eigenartig und einzigartig sein möchten. Als ob sie die Handlungen für ihren Auftritt nach dem Kriterium auswählen würden, welche Geste ein Zuschauer am wenigsten wird verstehen können. Zumindest was einen Performance-Anfänger wie mich betrifft. Ich soll den Performern morgen Fragen stellen, doch die einzige Frage, die mit einfällt, ist: Was zur Hölle soll dieses Getue?! Die Deckenlichter gehen an, tauchen den Raum in türkises Licht, das zu meiner Jacke passt, und die Dame mit Kühlschrank und Leiter hält Tupperware in der Hand, die Gefüllt ist mit einer zähflüssigen roten Schmiere, welche sie in die Küche bringt. Ich spüre Sonnenbrand an meinem Nacken. Während dieser Performance geschieht nicht sonderlich viel. Ein junger Typ, gekleidet wie ein echter Dandy, setzt sich neben mich und fragt auf Englisch, was ich denn schreibe. Ich sage ihm, was ich schreibe. Er fragt, ob er einen Schluck von meinem Bier haben kann. Ich bin irritiert, gebe ihm aber trotzdem welches. Er bedankt sich. Ich frage mich, ob er weiter mit mir sprechen möchte, doch ich bin ja am Schreiben. Von der Performance her kommt Krach. Ich spüre den Sonnenbrand in meinem Nacken. Ich würde gern mein Handy aufladen. Jetzt isst die Dame einen Apfel und die anwesenden Personen schauen ihr dabei zu. Zum Abschluss sagt sie etwas wie, dass diese Performance den Menschen der Sahara gewidmet ist, weil diese von Marokkanern belagert werden. Irgendetwas mag ich falsch verstanden haben.

Zur Performance „Territorial“ von Rita Marhaug (Bergen), Text von Elias Kirsche.

Ein weibliches Wesen in einem kurzen Kleid, Nylon­strumpfhosen, High Heels und Ledermaske (alles in Hautfarbe) sitzt starr in einer Betongrube. Das Kleid ist durch­sichtig und scheinbar selbst­genäht, die Maske bedeckt das ganze Gesicht. Es gibt Löcher für die Nase und für die Augen. Das Wesen beginnt, sich zuckend, jedoch plastisch zu bewegen. Über ein Brett klettert es aus der Grube heraus. Es geht immer wieder in die Hocke, so dass man ihm direkt unter den Rock schauen kann. Angekommen auf der Ebene der Erde, beginnt das Wesen, sich in Richtung Turbi­nenhalle zu bewegen. Dabei lockt es das Publikum mit eindeutig einla­denden Gesten, ihm zu folgen. Auf dem Weg zieht es die Maske aus. Nun sieht man eine kurzhaarige Blondine. Im Gehen drückt sie immer wieder ihre Oberschenkel zusammen, geht auffällig in die Hocke. Damit gibt sie den Zuschauern zu verstehen, dass sie dringend pinkeln muss. Je mehr sie sich der Turbi­nenhalle nähert, desto schwieriger scheint es ihr, den Urin zu halten. Sie setzt sich immer wieder hin und drückt ihre Beine noch mehr zusammen. Irgendwann zieht sie die High Heels aus, wirft sie weg und läuft barfuss weiter. Auf der Wiese beginnt sie, demons­trativ die Strumpfhose aufzu­reissen, ganz langsam, Stück für Stück. Es ist eine sexy Szene, die Blicke von herum­ste­henden Männern sind zwischen ihre Beine fixiert. Sie lässt die aufge­rissene Strumpfhose neben ihren High Heels auf der Wiese liegen und betritt, den Drang zum Urinieren schwer beherr­schend, die Turbi­nenhalle. Das Publikum folgt ihr.

In der Halle angekommen, stellt die Frau sich breit­beinig in der Mitte und zieht ihr ohnehin kurzes Kleid noch höher. Sie steht in der typischen Halbhocke. Es ist ein sehr geheim­nis­voller und äusserst spannender, „prolon­gierter“ Moment, eine intensive Erwar­tungs­stimmung ist spürbar: Wird sie nun pinkeln oder nicht? Die Augen der Zuschauer heften fest auf ihrer Figur, auf ihren Brust­warzen, ihren halbge­öffneten Scham­lippen. Sie verweilt ziemlich lange in dieser Position. Die Spannung steigt. Mein Blick schweift über die Gesichter der Zuschauer: sehr verschiedene, zum Teil gegen­sätzliche Eindrücke. Gesichter der Frauen spiegeln meistens Neugier wieder, manche männliche Gesichter einen Ekel oder eine starke Lust. Es dauert und dauert und dauert. Aber die Künstlerin lässt es nicht laufen. Es kommt nichts raus. Irgendwann spuckt sie aus, anstatt ihre Blase vor uns zu entleeren. Ich verspüre eine Enttäu­schung darüber. 

Die Performance verwirk­lichte, und zwar eins zu eins, die heute unter Fetischisten stark verbreitete Phantasie, einer anonymen Frau, die pinkeln muss, unbemerkt zu folgen, um ihr schliesslich beim Urinieren heimlich zuzuschauen. Alle Positionen und Stellungen, die die Künstlerin einnahm, zeugten von der Rezeption dieser Phantasie. Auch ihre Kleidungs­stücke erzählten darüber: die Maske, die die Anonymität betont, die High Heels, die die Beine länger machen, die Nylon- Strumpfhose, ein allge­gen­wärtiger Fetisch. Schliesslich das durch­sichtige Kleid in Hautfarbe. Die Repetition der Phantasie gelang perfekt, noch viel authen­tischer als in entspre­chenden Porno­videos. Leider ohne die von einigen Anwesenden hoffnungsvoll erwartete Kulmi­nation.